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Seit Ungarns Premierminister Viktor Orbán 2010 zum zweiten Mal an die Macht kam, hat er auch international die Aufmerksamkeit auf die Versuche gelenkt, Ungarns kritische Medien zum Schweigen zu bringen. Weniger bekannt ist allerdings, dass die ungarische Regierung mit öffentlichen Mitteln eine gut geölte Medienmaschinerie errichtet hat, die der Erzeugung von Desinformation und Fake News zu Propagandazwecken dient.

Desinformationskampagnen sind ein globales Phänomen. Was aber den Fall Ungarn so besorgniserregend macht – hier stimmen BeobachterInnen überein – ist die Tatsache, dass Ungarn keine Anstrengungen unternimmt, seine Aktivitäten zu verstecken. Nichts wird verschwiegen. Die Kanäle, die für die Verbreitung von Fake News in Ungarn dienen, sind nicht etwa automatisierte Twitter-Bots oder unauffindbare Facebook-Accounts, sondern regierungsnahe Medien, einschließlich weit verbreiteter Zeitungen, die auf staatlich finanzierte Werbung angewiesen sind. Zu diesen Kanälen zählen außerdem Online-Nachrichtenseiten mit staatlich finanzierten Bannern und morgendliche Talkshows auf dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender.

Inhalte, die von allen europäischen Medien ausgenommen jenen am äußersten Rand als bizarr betrachtet werden regelmäßig in jenen ungarischen Medien veröffentlicht, die großzügige staatliche finanzielle Unterstützung erhalten. Ein Beispiel: Infowars, eine amerikanische Website, die sich auf Verschwörungstheorien fokussiert, wird in Magyar Idők – eine Zeitung, die zu den regierungsfreundlichsten aller ungarischen politischen Tageszeitungen gezählt wird – als eine verlässliche Quelle zitiert. Pestisracok.hu, eine Nachrichtenseite mit einem Redakteur, der früher für die regierende Fidesz-Partei arbeitete, veröffentlichte nach der Las Vegas-Schießerei am 1. Oktober mit 58 Todesopfern eine Story mit dem Titel “Twitter-User wundern sich, warum George Soros seine Aktien vor dem Las Vegas-Massaker verkauft hat”.

“Ich glaube nicht, dass die Regierung vor Jahren einen teuflischen Schritt-für-Schritt-Medienplan entwickelt hat”, erzählte András Dezső, ein Journalist der Nachrichten-Webseite Index.hu, der ausführlich über Desinformationskampagnen berichtet, dem International Press Institute (Internationales Presseinstitut, IPI). “Aber seit sich Orbán dazu entschlossen hat, den illiberalen Weg zu gehen, gibt es kein Zurück mehr“.

Laut Dezső durchlief die Geschichte der ungarischen Fake News zwei verschiedene Stadien: ein “regierungsfreundliches” Stadium und ein “von der Regierung finanziertes” Stadium.

Während des ersten Stadiums wurde Desinformation aus Moskau verbreitet, und Verschwörungstheorien, die im Rahmen von internationalen alternativen rechtsgerichteten Medien entstanden, sickerten langsam in die ungarischen Medien, die Orbáns Regierung unkritisch unterstützten und seine Botschaften stärken mussten. In diese Phase fallen das Jahr 2013 und der Beginn des Jahres 2014 – eine Zeit, in der Russland nach dem Abschuss eines malaysischen Passagierflugzeugs über der Ukraine und der Annexion der Krim seine Propaganda und Desinformationskampagne drastisch verstärkte, sodass diese ein ohrenbetäubendes und verwirrendes Ausmaß annahmen.

Diese Veränderung nahm im Jahre 2014 ihren Anfang und war letztendlich Stein des Anstoßes für eine hausgemachte Desinformationskampagne.

„Eine starke Zunahme von Fake News konnte nach den ungarischen Wahlen [im April] 2014 beobachtet werden“, erklärte Péter Krekó, Geschäftsführer des Political Capital Institute, einer in Budapest ansässigen Denkfabrik, dem IPI.

Krekó hob drei Faktoren hervor, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Der erste Faktor war der gut dokumentierte Plan der ungarischen Regierung, die Medienlandschaft des Landes zu beherrschen. Orbán signalisierte seine Absicht, die meisten ungarischen Medienkonzerne in seine Hände zu bekommen – ein Ziel, dass er nun fast erreicht hat. Zweitens haben Orbán und seine BeraterInnen erkannt, dass sich das Medienumfeld verändert und dass sie einen neuen Kommunikationsstil brauchen, um ein neues, jüngeres Publikum anzuziehen. Der Premierminister benutzte sogar die englischen Wörter „fancy“, „cool“ und „sexy“, als er erklärte, was ihm vorschwebte. Diese Erkenntnis führte zur Bildung einer Gruppe von Breitbart-style Websites, einschließlich 888.hu und die bereits erwähnte Pestisracok.hu, von denen einige direkt von Árpád Habony, Orbáns inoffiziellem Chefstrategen, kontrolliert werden.

Ein Screenshot der regierungsnahen Nachrichtenwebseite 888.hu am 15. November 2017.

Der dritte Faktor – und möglicherweise der wichtigste – war die Flüchtlingskrise 2015 in Europa, welche sich als Gottesgeschenk für die ungarische Regierung herausstellte. Die Krise selbst und auch als Auslöser für Fake News und Desinformation wurde zu einem exzellenten Propagandainstrument, um Orbáns politische Ziele voranzutreiben.

Dezső beschreibt die Flüchtlingskrise als Schlüsselfaktor beim Übergang zur zweiten Phase des ungarischen Systems der Desinformation. Laut ExpertInnen gehen regierungsnahe und auch staatlich finanzierte Medien mittlerweile weit über die erneute Veröffentlichung von Fake News hinaus – sie produzieren nun ihr eigenes Informationsmaterial, um die Ziele der Regierung zu unterstützen.

„Die Regierung geht zunehmend bewusster und strategischer vor, wenn es um die unmittelbare Nutzung von Fake News geht, und über deren Nutzung via den von uns genannten „staatlich organisierten Medien“, erklärte Krekó.

Als russische Desinformationskampagnen weltweit zu einem brisanten Thema wurden, versuchten hunderte ungarische Journalisten, das Netz von dilettantischen inländischen Nachrichtenseiten freizumachen, die am laufenden Band Moskau-freundliche Propaganda produzierten. Wirklich erstaunlich ist die Tatsache, dass viele der Fake News-Webseiten, die 2016 im Rahmen der Veröffentlichung einer detaillierten Untersuchung erwähnt wurden, die Veröffentlichung ihrer Berichterstattung einstellten oder ihre Leserschaft komplett verloren. Der Grund war nicht unbedingt, dass sie als ausländische Agitatoren entlarvt wurden, sondern lag mehr darin, dass von der Regierung gestützte Massenmedien ihre Rolle und ihr Publikum übernahmen.

Laut Krekós Analyse hat die ungarische Fake News-Industrie in Bezug auf Informationsmaterial selbst keine „Innovationen“ hervorgebracht. Die Branche ist ein Mix des russischen Models – bei dem viele Inhalte (DC Leaks, die Soros-Kampagne, etc.) direkt aus Moskau importiert werden – und des Trump-Modells, welches das Verunglimpfen von oppositionellen Medien als „Fake News“ beinhaltet und gleichzeitig ein eigenes Fake-News-Imperium errichtet, das sowohl Propaganda- als auch Geschäftszwecken dient.

Strukturell gesehen ist das ungarische Modell jedoch einzigartig in der EU, nämlich deshalb, weil es von der Regierung organisiert und auch finanziert wird. Was dieses Modell besonders erschreckend und zugleich effektiv macht, ist die Tatsache, dass die Regierung Orbán bereits seit sieben Jahren – seit sie an der Macht ist – sukzessive unabhängige Medien mundtot macht.

Der russische Präsident Vladimir Putin (R) bei einem Gespräch mit dem ungarischen Premierminister Viktor Orbán während der Eröffnung der Judo-Weltmeisterschaften in Budapest, Ungarn, am 28. August 2017. EPA-EFE/TAMAS KOVACS

Eine sehr unschöne Entwicklung in Ungarn ist die staatlich finanzierte Kampagne gegen den in Ungarn geborenen Milliardär und Philanthropen George Soros. Soros zu dämonisieren ist keine Erfindung Ungarns, aber die tausenden Reklametafeln im ganzen Land, die wenig schmeichelhaftes Bild von ihm zeigen, ist es schon.

Das zentrale Glied der Regierungspropaganda der letzten paar Monate war der sogenannte „Soros-Plan“, der vermeintlich darauf abzielt, Millionen von MigrantInnen nach Europa zu bringen und sie mit öffentlichen Geldern zu überschütten. Alle regierungsfreundlichen und staatlich-finanzierten Medien behandeln den „Soros-Plan“ als echte Nachrichten, warnen vor seinen Gefahren und bitten regelmäßig Sicherheits-„Experten“, zu kommentieren, warum dieser Plan vereitelt werden muss.

Experten weltweit debattieren darüber, wie effektiv solche Desinformationskampagnen sind und ob sie neben der moralischen Panik, die durch Fake News ausgelöst wird, auch eine tatsächliche Wirkung haben. Es scheint Konsens darüber zu bestehen, dass der potentielle Schaden umso größer ist, je weniger medienkompetent ein Publikum ist. Dies bedeutet, dass Fake News beispielsweise fatale Folgen in Myanmar haben können, während sie in den Niederlanden womöglich nur zu kurzzeitigen Störungen führen. Ungarn, mit seiner Lage am Rand der EU, liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte.

Krekós Ansicht nach war die ungarische Fake News-Industrie nur teilweise erfolgreich.

„Die EU ist immer noch beliebt in Ungarn, und die westliche Orientierung der UngarInnen ist unbestreitbar, aber Vladimir Putin ist mittlerweile beliebter als Angela Merkel, und die UngarInnen betrachten George Soros und Brüssel als größere Gefahren als Russland“, sagt er. „Außerdem funktioniert die Anti-Flüchtlings-Kampagne optimal, wenn es darum geht, die Einstellungen und Ansichten der ungarischen Gesellschaft zu formen“.

Dezső ist weniger optimistisch und sieht die staatlich finanzierte Desinformationskampagne als klaren Erfolg.

“Sie zielen bewusst auf ältere und weniger gebildete MedienkonsumentInnen anstatt auf Intellektuelle”, sagt er. “Durch die Verbreitung von Zweifeln schaffen sie es zumindest, diese KonsumentInnen davon zu überzeugen, dass alle Medien lügen, wodurch sie die echten Nachrichtenmedien noch weiter schwächen. Das kann katastrophale Folgen für Ungarn haben – ein Land, in dem kaum mehr unabhängige Medien übrig sind“.

Besonders vielsagend ist auch die Tatsache, dass ungarische BeamtInnen nie über das Ausmaß sprechen, in dem Fake News oder russische Desinformationskampagnen problematisch sind. Im Gegensatz zu postsowjetischen Staaten unternimmt die ungarische Regierung keine Bemühungen, MedienkonsumentInnen aufzuklären, wie sie Fakten von Fiktion trennen können.

Es scheint, als gebe es einfach keine dafür zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel.

Aus dem Englischen übersetzt von Katja Deinhofer.
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