Dieser Artikel ist Teil von IPIs-Artikelserie „Medienfreiheit in Europa im Schatten von Covid.“
Die unabhängigen ungarischen Medien, die bereits wegen der weltweiten Coronavirus-Pandemie in Schwierigkeiten sind, haben ihren bislang größten Schlag erlitten, in einem Jahrzehnt, geprägt von ständigen Angriffen seitens des autoritären rechten Regimes Viktor Orbáns. In der letzten Juliwoche trat die überwiegende Mehrheit der rund 90 arbeitenden Journalisten bei Index.hu zurück, nachdem ihr Chefredakteur, Szabolcs Dull, vom CEO des Unternehmens entlassen worden war. Es ist immer noch unklar, wie sich das auf die ungarische Medienlandschaft auswirken wird, aber alle Beteiligten sind sich einig: Es wird alles schlimmer werden.
Die Bedeutung von Index kann nicht hoch genug eingestuft werden. Index machte fast die Hälfte aller Seitenaufrufe bei unabhängigen Medien in Ungarn aus, aber abgesehen von den Zahlen war die Website ein Symbol des postkommunistischen Ungarns. Gegründet Ende der 1990er Jahre, als die erste große Welle an Ungarn Anschluss an das Internet hatte, war sie in vielerlei Hinsicht die erste moderne ungarische Nachrichtenportal, völlig frei von den alten Gewohnheiten ex-kommunistischer Medienprofis.
Die Muttergesellschaft von Index besitzt die beliebteste Blogging-Plattform und eine Reihe an unabhängig erfolgreichen Websites, die alles von Autos bis hin zu Filmen abdecken, aber ihr Flaggschiff war Index.hu. In einem Land, in dem die öffentlich-rechtlichen Medien zu einem Sprachrohr der Regierung geworden sind, war Index prestigeträchtig genug, um jene Rolle zu übernehmen, die normalerweise staatlich finanzierten Rundfunksendern zufällt. Besonders deutlich wurde das während der Coronavirus-Pandemie, als Index von noch mehr Menschen als gewöhnlich gelesen wurde und in einem in Ungarn fast undenkbarem Schritt, veröffentlichten sogar Politiker Meinungsartikel auf der Website, in denen sie ihre Handlungen gegenüber der allgemeinen Wählerschaft erläuterten.
Aber im Hintergrund braute sich bereits Ärger zusammen. Im März 2020 erwarb Miklós Vaszily, einer von Orbáns Medienschaffenden, eine Mehrheitsbeteiligung an Indamedia, dem Unternehmen, das die Werbung und die kommerziellen Angelegenheiten von Index verwaltet. Das war ein sehr deutlicher Hinweis darauf, dass die Regierung etwas im Schilde führte und die Journalisten von Index waren sich dessen wohl bewusst.
„Seit dem Frühjahr 2020 war es sehr schwer zu arbeiten und gleichzeitig meine Integrität zu bewahren. Es war sehr anstrengend, all das zu tun, während wir ständig auf der Hut sein mussten, aus Angst vor irgendwelchen Deals, die dort stattfinden könnten”, erklärte Veronika Munk, die ehemalige stellvertretende Herausgeberin von Index, gegenüber dem International Press Institute (IPI). „Niemand hat unsere Fragen zur Situation des Unternehmens beantwortet. Und dann mussten wir eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben. Meine Aufgabe ist es, allen die Wahrheit zu sagen, daher war das wirklich schmerzhaft für mich. Ich konnte unserem Management einfach nicht länger vertrauen”.
Wie viele außenstehende Beobachter war auch Munk von der fast einstimmigen Rücktrittswelle überrascht. Während sich einige fragten, warum sie auch nach der Entlassung ihres Chefredakteurs nicht weiterkämpften, sagte der Medienrechtsexperte Gábor Polyák gegenüber IPI, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hätten. „Das zu tun, war sehr riskant, weil sie im Grunde genommen ins kalte Wasser gesprungen sind. Aber wenn sie geblieben wären, hätten sie riskiert, langsam, fast unbemerkt von den Machthabern vereinnahmt zu werden. Wenn sie jetzt nicht gehandelt hätten, hätten sie vielleicht nicht die Kraft gehabt, später zu handeln.”
Der Rücktritt des gesamten Redaktionsteams hat Index in einen seltsamen Schwebezustand gebracht. Dazu Munk: „Wir haben alle die Geschäftsleitung gebeten, uns von unseren vertraglichen Verpflichtungen zu entbinden, aber sie haben dem nur für etwa 25 Personen zugestimmt, der Rest muss weiterarbeiten. Ich persönlich muss bis Ende August weiterarbeiten, und meine Kolleginnen und Kollegen erledigen ihre Arbeit so professionell wie immer. Es ist sehr schwer, irgendjemanden in dieser Situation zu motivieren, aber wir haben beschlossen, wie gewohnt bis zum letzten Moment dieses Finales weiterzumachen. Aber keiner von uns setzt unter seine Artikel seinen eigenen Namen.”
Für den Gelegenheitsleser funktioniert Index immer noch wie früher, wenn auch mit weniger Artikeln, bei genauerem Hinsehen zeigt sich ein allgemeiner Mangel an Begeisterung von Seiten derer, die noch dort arbeiten. Ihre Besucherzahlen sind laut Munk um ein Drittel zurückgegangen, was im Einklang mit der Zahl der Journalisten steht, die Index bereits für immer verlassen haben. Bei einigen der verbleibenden Konkurrenten von Index, insbesondere bei 24.hu, sind die Besucherzahlen gestiegen, aber laut Polyák nicht so stark wie die Verluste bei Index. Die Facebook-Seite von Index hat seit der Entlassung Dulls etwa 40.000 Likes verloren, und dies kann als Indikator für jene Leseranzahl gewertet werden, die die Newssite aufgrund einer bewussten Entscheidung verlassen haben. Aber die Internetseite von Index hat immer noch etwa 570.000 Likes.
Am 3. August erschien auf der Facebook-Seite von Távozó Indexesek ein mysteriöses Foto, auf dem nur ein paar Worte zu lesen waren. „Es wird noch eines geben. Bald“, war darauf zu sehen. IPI fragte mehrere Personen bei Index nach dieser Nachricht, aber die Journalisten blieben schweigsam. „Ich möchte in diesem Beruf bleiben, ich tue das seit 20 Jahren. Ich hoffe aufrichtig, dass die ungarische Gesellschaft ein Medium wie Index braucht. Wir wollen wirklich zusammenbleiben”, sagte Munk zu IPI.
Zusammenbleiben, das wünschten sich alle Redaktionsteams, auch anderer ungarischer Medien, als sie mit ähnlichen Situationen wie Index konfrontiert waren, aber fast keinem ist es gelungen und schon gar nicht in diesem Ausmaß.
„Es scheint mir, dass diejenigen, die Index jetzt verlassen, keinen Plan B hatten. Sie brauchen ein paar Millionen Euro, um alle zusammenzuhalten und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie diesen Betrag über Crowdfunding einnehmen. „Sie bräuchten große Unternehmen, die ihnen helfen würden, einige haben das bereits im Hintergrund getan”, erklärte Polyák. Allerdings sei es sehr schwierig, auf einem Markt Fuß zu fassen, auf dem viele Konkurrenten bereits hoffen, potenziellen Lesern, die sich für unabhängige ungarische Medien interessieren, den letzten Pfennig herauszuleiern. Wenn es der ehemaligen Redaktion von Index nicht gelingt, zusammenzubleiben, können diese Konkurrenten nicht mehr als etwa 20 Journalisten Arbeitsplätze anbieten, so dass viele andere ihren Beruf für immer aufgeben müssten, so Polyák. Die globale Pandemie hat die verbleibenden unabhängigen ungarischen Medienunternehmen weiter geschwächt und sie alle gezwungen, Löhne zu kürzen oder Journalisten zu entlassen. Die Werbeeinnahmen sind im März und April dramatisch zurückgegangen und haben das Niveau von vor der Pandemie noch nicht erreicht.
Es ist auch unklar, was mit Index geschieht, wenn alle weggehen. Das Führungsteam hat verzweifelt nach Ersatz gesucht, aber bisher ist der einzige Journalist, den sie überzeugt haben, nach nur einem Tag als stellvertretender Redakteur zurückgetreten. Dieselben Manager haben bereits früher bekanntgegeben, dass sie Index nicht „in eine weitere Origo verwandeln wollen”, hierbei beziehen sie sich auf eine andere große, ehemals unabhängige Nachrichtenwebsite, die zu einem der übelsten Sprachrohre der Regierung geworden ist. Die meisten Experten sind sich einig, dass der Rücktritt einer so großen Anzahl an Journalisten die Manager und diejenigen, die im Hintergrund das Sagen haben, überrascht hat. Polyák zufolge „scheinen sie jetzt alle ein wenig verwirrt zu sein. Index als Marke verliert von Tag zu Tag an Wert, aber ich vermute, dass sie hoffen, irgendwie ein neues Team aufzubauen, das ihre alte Leserschaft überzeugen kann, dass sich nichts geändert hat.”
Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass sich Viktor Orbán und sein Regime nach dem Sturz von Index nicht zufrieden geben werden. „Das Beste, was man sich erhoffen kann, ist die Ruhe vor dem Sturm”, meinte Polyák. Die einzige realistische Alternative zu Index ist 24.hu, eine Nachrichtenwebsite, die ein breites Themenspektrum abdeckt und Teil eines großen Medienportfolios des milliardenschweren Geschäftsmannes Zoltán Varga ist. Die Propagandastellen der Regierung haben seit Monaten niederträchtige Angriffe auf Varga verübt, und seit die Unruhen bei Index begonnen haben, haben sie auch einige üble Artikel über Péter Szauer, den Eigentümer der Wochenzeitung HVG und ihrer Schwester-Website, veröffentlicht.
„Seit einem Jahrzehnt haben sie nicht eine einzige Sekunde aufgehört, niemand kann sich sicher fühlen”, so Polyák. „Bis jetzt hat es die Regierung geliebt, auf unabhängige Medien zu verweisen, wann immer deren Medienpolitik kritisiert wurde. Es kommt ein Punkt, an dem die Regierung 98 Prozent der Medien kontrolliert und das sieht ziemlich dumm aus, aber wer weiß, ob ihnen das noch etwas ausmacht.“
Aus dem Englischen von Julia Rieser übersetzt