Gerade als es den Anschein hatte, als hätten die Medien in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen ihre finanzielle Situation stabilisiert und ihre Einnahmen gesteigert, kam es zur Pandemie. Der Lockdown beschleunigte die digitale Transformation größerer Medienunternehmen und machte gleichzeitig die Anfälligkeit kleinerer und regionaler Medienunternehmen deutlich. Und da die Werbetreibenden weiterhin vorsichtig sind und sich die zweite Welle der Pandemie ausbreitet, könnte die wahre Herausforderung für die baltischen Nachrichtenmedien noch vor ihnen liegen.
Mit einer Gesamtbevölkerung von 6 Millionen Menschen in den drei Ländern ist der baltische Medienmarkt klein. Sein Wachstum wird durch die schrumpfende Bevölkerung und den zunehmenden Fluss von Werbe-Euros in die Taschen von Technologie-Giganten wie Facebook und Google eingeschränkt. Im vergangenen Jahr erreichte der Wert der Werbung in Fernsehen, Radio, Zeitungen, Zeitschriften und Internetmedien in allen drei Ländern zusammen nur 255 Millionen Euro. Zum Vergleich: Das sind nur 10 Millionen Euro mehr als die Gesamteinnahmen der Guardian Media Group, Eigentümer der Zeitungen The Guardian und The Observer.
Der baltische Werbemarkt ist in den letzten zehn Jahren kontinuierlich gewachsen, hat jedoch nicht wieder das Spitzenniveau von 2008 erreicht. „Die Nachrichtenmedien haben einen enormen Rückgang der Werbeeinnahmen erlebt. (…) Und das wirkt sich natürlich auf die Lebensfähigkeit der Nachrichtenmedien aus” , sagte Auksė Balčytienė, Professorin für Journalismus an der Vytautas-Magnus-Universität in Litauen.
Etwa ein Drittel der Unternehmen, denen die 75 beliebtesten Medien im Baltikum gehören, haben mit Verlusten gearbeitet, so das Ergebnis des Baltic Media Health Check, einer jährlichen Studie über die Trends in den baltischen Medien. Dennoch hätten in den letzten Jahren mehr Medienunternehmen zumindest ihre Einnahmen steigern können, was eine Voraussetzung dafür ist, in Zukunft Gewinne zu erzielen. Dann kam COVID-19.
Die unvermeidlichen Einschnitte
Wie in anderen Ländern haben die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung einen starken Rückgang der Werbeeinnahmen ausgelöst, auf die die meisten Medien in den baltischen Ländern noch immer angewiesen sind. Das bedeutete, dass Kosteneinsparungen unvermeidlich waren. Mehrere Medienhäuser in den baltischen Ländern kürzten entweder vorübergehend oder dauerhaft die Löhne ihrer Mitarbeiter und entließen einige Mitarbeiter.
Die Auswirkungen des Virus waren zweischneidig. Auf der einen Seite gab es eine starke Nachfrage der Öffentlichkeit nach Nachrichten, was dazu führte, dass die Medien wieder an Bedeutung gewannen, sagte Balčytienė. Auf der anderen Seite mussten sich die Nachrichtenredaktionen beeilen, mehr Informationen mit weniger Ressourcen zu liefern.
„Der Rückgang der Einnahmen bedeutete, dass die Vielfalt der Inhalte ziemlich schnell abnahm”, sagte Anda Rožukalne, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Riga Stradins Universität in Lettland.
Laut Rožukalne war das erste, was einige Medien taten, ihre Zusammenarbeit mit Freiberuflern zu kürzen. Andere Medien versuchten, Kosten zu sparen, indem sie ihre Veröffentlichungsfrequenz reduzierten. All diese Maßnahmen bedeuteten, dass sich die Medien vor allem auf die Berichterstattung über das Virus und seine Folgen konzentrierten und sonst wenig.
Da Einsparungen vorgenommen werden mussten, wurden zudem vermehrt „vorgefertigte Informationen” verwendet, fügte Rožukalne hinzu. „Die Medien wurden in viel stärkerem Maße zu einem Kanal für die Regierung (…), um die Öffentlichkeit zu erreichen, was natürlich eine sehr wichtige Funktion ist. Es fehlte jedoch eine kritische Bewertung”, sagte sie. Sie fügte hinzu, dass die Medien während der Pandemie gut und verantwortungsbewusst gearbeitet hätten und dass sich daher das Vertrauen in die Medien insgesamt nicht wesentlich verändert habe.
Ragne Kõuts-Klemm, außerordentliche Professorin für Journalismussoziologie an der Universität Tartu in Estland, bemerkte auch, dass die Medien oft einfach nur die von Experten und Staatsbeamten angebotenen Inhalte reproduzierten. „Auf der anderen Seite waren sie in der Lage, einen konstanten Nachrichtenfluss zu schaffen. Das war wirklich eine enorme Arbeit”, sagte sie.
Der digitale Vorstoß
Die begrenzten Ressourcen und der Lockdown beschleunigten auch die digitale Transformation. Kõuts-Klemm sagte, dass die Suche nach neuen Wegen zur Darstellung von Inhalten und die Organisation von Fernarbeit sowohl Journalisten als auch Nachrichtenorganisationen bei der Entwicklung ihrer digitalen Fähigkeiten geholfen habe.
Die Krise bot auch eine Gelegenheit, notwendige, wenn auch manchmal radikale Veränderungen vorzunehmen. So hat sich beispielsweise die estnische Wirtschaftszeitung Äripäev von einer Tages- zu einer Wochenzeitung gewandelt. In Lettland beschloss unterdessen eine der drei verbleibenden nationalen Tageszeitungen, Neatkarīgā Rīta Avīze (was übersetzt „Unabhängige Morgenzeitung” bedeutet), ihre Printausgabe einzustellen und nur noch digital zu erscheinen. Die Zeitung hatte jahrelang Verluste gemacht.
Online-Nachrichtenseiten verzeichneten während des Lockdowns einen deutlichen Zuwachs ihres Publikums, eine Entwicklung, die einige Medien zu monetarisieren vermochten, auch wenn noch unklar ist, inwieweit das den Rückgang der Werbeeinnahmen ausgeglichen hat. Estland ist von den drei baltischen Ländern am weitesten fortgeschritten, wenn es um Paywalls und die Bereitschaft der Leser geht, für Online-Inhalte zu bezahlen. Im Frühjahr ist die Zahl der digitalen Abonnenten in Estland um 15 Prozent gestiegen, so der estnische Verband der Medienunternehmen. Jetzt, Ende September, gab es fast 114.000 bezahlte digitale Abonnements in einem Land mit nur 1,3 Millionen Einwohnern.
Ekspress Grupp, der Eigentümer von Delfi, der beliebtesten Online-Nachrichtenseite im Baltikum, sowie zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, sagte, dass die digitalen Abonnements seiner Publikationen Ende Juni 63.000 Abonnenten in allen drei Ländern erreichten, was einem Anstieg von 26 Prozent im Vergleich zu Ende 2019 entspricht.
Diejenigen, die hinterherhinken: Regional und Lokalpresse
Die Entwicklung digitaler Produkte ist nichts Neues für größere Medienhäuser in der Region, die dank der Tatsache, dass sie meist gewinnbringend und marktführend sind, auch besser in der Lage sind, die Pandemie zu überstehen. Der Lockdown habe jedoch gezeigt, wie sehr kleinere und regionale Publikationen im Rückstand seien, sagte Rožukalne von der lettischen Riga Stradins Universität.
„Regionale Medien investieren viel in digitale Inhalte, aber ihnen fehlen die Ressourcen, um technologische Fähigkeiten zu entwickeln, was bedeutet, dass sie nicht über die Mittel verfügen, um das Publikumswachstum zu monetarisieren”, stellte sie fest.
Die Situation in Estland sei ähnlich, sagte Kõuts-Klemm. Sie hält die begrenzte Finanzierung der lokalen Medien für eine Bedrohung ihrer Lebensfähigkeit. „Lokale Medien haben besonders geringe Ressourcen und keine Mittel für die digitale Entwicklung”, erklärte Kõuts-Klemm und fügte hinzu, dass die Einrichtung eines Sonderfonds zur Unterstützung eines digitalen Sprungbretts für die regionalen Medien hilfreich sein könnte.
Balčytienė sagte, dass auch in Litauen die regionalen Medien am stärksten unter der Krise gelitten hätten. Die geschlossenen Postämter bedeuteten, dass die Printausgaben nicht an die Abonnenten ausgeliefert werden konnten, während geschlossene Geschäfte einen Verlust beim Zeitungsverkauf bedeuteten. „Viele dieser kleinen Zeitungen befinden sich in einer sehr unsicheren Situation, vor allem jetzt, da die zweite Welle der Pandemie bevorsteht und die Unsicherheit sehr groß ist”, fügte sie hinzu.
Die Aufhebung des Lockdowns hat den Anzeigenmarkt wiederbelebt. Aber was verloren gegangen ist, kann nicht vollständig zurückgewonnen werden. Litauen rechnet damit, dass sein Werbemarkt in diesem Jahr um rund 10 Prozent zurückgehen wird, was zum Teil auf die politische Werbung zurückzuführen ist, die durch die Parlamentswahlen im Oktober vorangetrieben wurde. In Lettland, in dessen Hauptstadt Riga im August Gemeinderatswahlen abgehalten wurden, wird der Werbemarkt voraussichtlich um 10 bis 15 Prozent schrumpfen, während der Markt in Estland in diesem Jahr um bis zu 25 Prozent schrumpfen könnte. Das deutet nicht auf eine rosige Zukunft hin.
„Ich denke, die Folgen könnten etwa im Frühjahr des nächsten Jahres sichtbar werden”, sagte Rožukalne. „Es ist möglich, dass einige Medien vom Markt verschwinden – sie könnten es einfach nicht schaffen. Sie haben einige Ersparnisse, mit denen sie sich vorerst aufrechterhalten können, aber diese Zeit ist nicht unendlich lang.“
Aus dem Englischen von Julia Rieser übersetzt
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