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Am 23. Oktober wurde Radiomoderatorin und stellvertretende Chefredakteurin des Radiosenders Ekho Moskvy, Tatyana Felgenhauer, in der Redaktion des Senders im Zentrum von Moskau von einem Unbekannten niedergestochen. Felgenhauer überlebte den Angriff, lag aber die nächsten Tage im künstlichen Koma.

Behörden identifizierten den Angreifer als einen russisch-israelischen Staatsbürger und gaben an, dass der Verdächtige möglicherweise psychisch labil sei. Präsident Vladimir Putin wies Vermutungen zurück, dass Felgenhauer aufgrund ihrer Berichterstattung zur Zielscheibe des Täters wurde und nannte den Angreifer einen „kranken Mann“. Das Ereignis zog auch internationale Aufmerksamkeit auf sich, vor allem hinsichtlich der Gewalt und der Drohungen, denen unabhängige russische JournalistInnen aktuell ausgesetzt sind. Zahlreiche BerichterstatterInnen sagen, dass die Situation immer schlimmer werde und verweisen auf die zunehmende Polarisierung und ein von Gewalt geprägtes politisches Klima, das Angriffe fördert.

Ekho Moskvy gehört zu den wenigen Medien, die sich mit ihren Berichten und Diskussionen kreml-kritisch zeigen. Wie auch andere unabhängige Medien in Russland wurde auch Ekho Moskvy schon des Öfteren beschuldigt, ausländische Interessen zu vertreten und ihre JournalistInnen werden als VerräterInnen diffamiert und angegriffen.

Dem Angriff auf Felgenhauer ging ein Nachrichtenbericht über das russische Staatsfernsehen voraus, welcher Ekho Moskvy und Felgenhauer als Medium bzw. Journalistin zeigte, die im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im März gegen die Interessen des russischen Staates handeln würden. Der Sender wurde beschuldigt, mit ausländischen NGOs zusammenzuarbeiten. Felgenhauers UnterstützerInnen sagen außerdem, sie sei aufgrund ihrer Beschwerden über die Bedingungen, mit denen JournalistInnen derzeit im Land konfrontiert sind, angegriffen worden.

Kurz nach dem Angriff verließ eine andere Journalistin, Ksenia Larina, die ebenfalls für Ekho Moskvy arbeitet, das Land. Alexei Venediktov, Chefredakteur des Senders, gab an, dass er Larina gebeten habe, Russland zu verlassen, damit sie in Sicherheit sei.

Im September entschied Novaya Gazeta-Kolumnistin und Ekho Moskvy-Radiomoderatorin Yulia Latynina, aus Russland zu fliehen, nachdem unbekannte Angreifer ihr Auto in Brand gesetzt hatten. Unbekannte griffen sie auch Mitte Juli in ihrem Zuhause an und im August 2016 wurde sie von mutmaßlich rechten AktivistInnen außerhalb der Ekho Moskvy-Redaktion mit Fäkalien übergossen.

Dieses Jahr hat das International Press Institute (Internationales Presseinstitut, IPI) bereits drei Todesfälle von russischen JournalistInnen auf seiner „Death Watch“-Liste verzeichnet – sie alle wurden möglicherweise aufgrund ihrer Arbeit zur Zielscheibe. Der Londoner „Free Expression Watchdog Index on Censorship“ hat dieses Jahr über 30 Fälle von physischer Gewalt gegen JournalistInnen dokumentiert.

Obwohl die Schwierigkeiten, mit denen die verbliebenen unabhängigen Medien derzeit zu kämpfen haben, in Russland nichts Neues sind, stellen BeobachterInnen eine Zunahme von schwerwiegenden Drohungen und Angriffen fest, von denen viele im Westen und sogar in Moskau unbemerkt bleiben.

Über diese Entwicklung sprach das IPI mit Nadezhda Azhgikhina, einer langjährigen Journalistin und Vizepräsidentin der Europäischen Journalisten-Föderation sowie Mitglied der Free Word Association, und auch mit dem russischen Rundfunk- und Investigativjournalisten Artem Filatov, einem früheren Mitarbeiter des Senders Ekho Moskvy, der zurzeit als freischaffender Journalist in Moskau arbeitet.

IPI: Viele bezeichneten den jüngsten Angriff auf Journalistin Tatyana Felgenhauer als „erschreckende Entwicklung“. Bedeutet das, dass bestimmte Gruppen eher Gewalt anwenden anstatt zu anderen Einschüchterungsinstrumenten zu greifen?

Azhgikhina: Für viele ist der Angriff auf Tatyana durch einen psychisch kranken Mann eine Folge der verbalen Aggressionen und Hassreden in der Gesellschaft und der breiten Masse. Diese Reden provozieren nicht nur mit offensichtlichen Wörtern des Hasses – sondern vor allem mit dem Stil, der Intonation und der Art, wie Nachrichten und speziell Talkshows präsentiert werden. [Das staatliche Fernsehen] bezeichnet JournalistInnen von Ekho als „Fünfte Kolonne“, „Bedienstete des Westens“, etc.

Filatov: Ein halbes Jahr vor der Wahl wird die Lage immer komplizierter und schwieriger; es werden immer mehr Versuche unternommen, JournalistInnen von ihrer Arbeit abzuhalten. Aktuell beobachten wir, dass die Atmosphäre für unabhängige JournalistInnen immer unerträglicher wird.

IPI: Welche Arten von Gruppen sind normalerweise für Einschüchterungen von JournalistInnen verantwortlich bzw. werden verdächtigt, JournalistInnen einzuschüchtern?

Azhgikhina: Sehr unterschiedliche [Arten von Gruppen]. Beobachtungen der Glasnost Defense Foundation zeigen, dass JournalistInnen regelmäßig in allen Regionen Russlands Einschüchterungen ausgesetzt sind. Drohungen kommen meist von unbekannten Personen, hauptsächlich von rechtsradikalen Gruppen, Kriminellen oder Personen, die mit Unternehmen, regionalen und lokalen Behörden oder sogar mit Strafverfolgungsbehörden in Verbindung stehen. Möglicherweise stehen auch Geschäftspersonen, Gangster und lokale Behörden hinter [diesen Drohungen], aber es ist sehr schwierig, die Existenz dieser Verbindungen zu beweisen. Manchmal bedrohen auch lokale PolitikerInnen, PolizistInnen oder Geschäftspersonen kritische JournalistInnen, indem sie sie anrufen oder ihnen übers Internet schreiben – Dies kommt aber nicht sehr häufig vor. Häufiger sind Drohungen von radikalen religiösen Gruppen.

Filatov: Behörden sind sehr geschickt bei ihren Kampagnen gegen JournalistInnen, weil sie sich selbst sehr selten als GegnerInnen der JournalistInnen präsentieren. Aber oft sind die Spuren der Personen, die an der Macht sind, für uns auch sichtbar.

Ich sehe wenige Instrumente, mit denen man diese PolitikerInnen kritisieren könnte beziehungsweise ihre Haltungen und Handlungen ändern könnte. So wie ich es sehe, verfügen sie bereits über grenzenlose Macht. Es gibt manche Dinge, die sie nicht tun können, aber sie sind sehr daran gewöhnt, mit regierungseigenen Medien zu arbeiten, die immer die richtigen, freundlichen Fragen haben. Sie stoßen nicht mehr auf Kritik, und wenn sie auf JournalistInnen treffen, die sie kritisieren, denken sie tatsächlich: „Warum machen sie das?“ Sie finden diese Kritik seltsam und betrachten sie als eine Art Verletzung der Ordnung der Dinge in Russland.

IPI: Gab es in letzter Zeit eine Zunahme von Bedrohungen von oder Druck auf JournalistInnen?

Azhgikhina: Yulia Latynina verließ das Land, nachdem sie bedroht und angegriffen wurde. Dmitry Muratov, Chefredakteur der Novaya Gazeta, entschloss sich dazu, seinen JournalistInnen Waffen zu geben. Diese Fälle sind allgemein bekannt. Es wurden jedoch auch weitere JournalistInnen in Orten rund um Großstädte wie Moskau oder St. Petersburg attackiert. BeobachterInnen sagen, dass Angriffe und Drohungen in letzter Zeit zugenommen haben. Auch der Druck auf kritische Stimmen wird immer stärker. Der Grund für diese jüngsten Angriffe ist die Straffreiheit.

Filatov: Es gibt Fälle von JournalistInnen, die dazu gedrängt wurden, ihre Aktivitäten einzustellen, die im Westen und sogar in Moskau relativ unbekannt sind. Dies sehen wir nicht nur in Moskau. Ein Beispiel ist der Fall meines Kollegen aus St. Petersburg, Investigativjournalist Sergey Kagermazov, der wichtige Untersuchungen hinsichtlich der WM-Arena und eines vermuteten Fehlverhaltens des Vorsitzenden des Stadtparlaments unternahm. Im Oktober wurde er dazu gedrängt, seine Untersuchungen einzustellen und St. Petersburg zu seiner eigenen Sicherheit zu verlassen, weil Ermittlungen gegen ihn in die Wege geleitet wurden. Die Polizei kam zu seinem Haus und seiner Redaktion, um ihn unter Druck zu setzen – am Ende blieb ihm nichts anderes übrig, als die Stadt zu verlassen.

In Kaliningrad zum Beispiel ist ein Journalist derzeit mit einer fast schon abstrusen Klage konfrontiert: Er soll den Vorsitzenden eines Untersuchungskomitees der örtlichen Polizei bestochen haben. Es wäre einfach ein undenkbarer Akt, zu versuchen, einen so mächtigen Polizeibeamten zu bestechen. Nun aber sitzt dieser Journalist im Gefängnis.

In St. Petersburg zeigen sich JournalistInnen im Hinblick auf die Zukunft sehr besorgt. In Moskau sieht die Situation etwas anders aus, da der Medienmarkt einfach größer ist. Aber noch immer wächst die Kontrolle der Regierung, und unabhängige Medien versuchen, an ihrer wirtschaftlichen und politischen Unabhängigkeit festzuhalten.

Einen Job bei unabhängigen Medien zu finden könnte schwierig werden, weil es nicht allzu viele freie Stellen gibt. Es gibt aber derzeit viele freie Stellen bei staatlichen Medien. Wenn man also nicht für letztere arbeiten möchte, wird man keinen Job als Journalist finden.
Dem Druck kann man nur entgehen, wenn man für Unterhaltungsmedien arbeitet. Nur so kann man entspannt arbeiten.

IPI: Viele der jüngsten Fälle betreffen vor allem Journalistinnen: sind Frauen in dieser Berufssparte anders von den Drohungen und dem Druck betroffen als Männer?

Azhgikhina: Frauen erhalten rund drei Mal so viele Drohungen wie Männer, und viele davon sind Androhungen von sexueller Gewalt – gegen sie selbst und auch gegen Familienmitglieder und Kinder. Viele haben aufgehört, kritische Texte zu schreiben. Viele üben ihren Beruf gar nicht mehr aus. Bei den jüngsten schwerwiegenden Fällen handelt es sich überwiegend um Frauen. Vielen gefällt es nicht, dass Frauen zu verschiedenen Themen ihre Meinung äußern, einschließlich Religion und Politik.

IPI: Was ist die Rolle des staatlichen Fernsehens und der staatlichen Medien hinsichtlich der Schikanen und Angriffe auf unabhängige JournalistInnen?

Azhgikhina: Das staatliche Fernsehen und staatliche Medien sind sehr vielfältig, und viele JournalistInnen in den ländlichen Regionen Russlands, die Angriffen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt sind, arbeiten für lokale Medien, die erhebliche finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten oder sich direkt in Staatsbesitz befinden. Ekho Moskvy bekommt Gelder von Gazprom, einem Unternehmen, das in enger Verbindung mit dem Staat steht. Viele JournalistInnen von staatlichen Medien beziehungsweise von Medien, die mit staatlichen Unternehmen in Verbindung stehen, verrichten ehrliche Arbeit. Aber eine Reihe von politischen Programmen des nationalen Fernsehens, die zur Primetime ausgestrahlt werden, ist für ihr aggressives, propagandistisches, anti-westliches, anti-liberales Vorgehen bekannt. Das ist wirklich gefährlich.

Filatov: Der Angriff auf Felgenhauer passierte nur eine Woche nach der Ausstrahlung eines schonungslosen Berichtes auf Russia 1 TV, der Ekho Moskvy als verräterischen Sender diffamierte. In diesem Bericht wurden Beschreibungen verwendet, die JournalistInnen definitiv gefährdeten. Das Problem ist nicht nur die Darstellung von JournalistInnen im staatlichen Fernsehen – das Problem liegt darin, auf welche Art und Weise sie den ZuschauerInnen über Opposition und über jegliche unabhängige Institutionen berichten. Manche Stories und Erzählungen von staatlichen Medien und einige staatliche Nachrichten-Webseiten erinnern an einen Strafprozess, in dem JournalistInnen als kriminelle Personen, als teuflisch, problematisch – als eine Bedrohung für die russische Demokratie und Gesellschaft – dargestellt werden. Natürlich hat dies auch einen Einfluss auf Menschen, die nun denken, sie dürfen JournalistInnen und AktivistInnen schaden und bemerken, dass sie sich dabei möglicherweise sogar jeglicher Bestrafung entziehen können.

IPI: Gab es je angemessene Reaktionen von Behörden oder PolitikerInnen hinsichtlich der jüngsten Angriffe? Oder machen sie die Situation nur noch schlimmer?

Azhgikhina: Nicht genug. Und das ist sehr gefährlich. Es ist wichtig, alle Fälle von Angriffen und Gewalt gegen JournalistInnen zu untersuchen und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Solche Angriffe müssen als schwere Verbrechen wahrgenommen werden – alle Drohungen müssen ernst genommen werden. Wirklich ernst genommen werden derzeit nur Morddrohungen; Androhungen von sexueller Gewalt bleiben zum Beispiel weitestgehend unbemerkt.

Filatov: Soweit ich weiß, wird der Fall [Felgenhauer] ernst genommen und Behörden haben hier geholfen. In anderen Fällen sehen wir aber unterschiedliche Ansätze. Das größte Problem ist die Art und Weise, wie Fälle untersucht werden: die Untersuchungen bringen keine Ergebnisse und verhindern auch keine zukünftigen Angriffe.

Ich habe noch nie Morddrohungen erhalten, aber ich weiß von meinen KollegInnen, dass sie welche erhalten haben. Diese Fälle werden nicht ordnungsgemäß untersucht. In manchen Fällen sagen die Behörden, dass es sich nicht um echte Drohungen handle, weil sie nur übers Internet, über Nachrichten, erfolgen. Manchmal werden diese Fälle sogar ignoriert.

IPI: Wie sehen sie die Entwicklung der derzeitigen Situation in naher Zukunft?

Filatov: Ich habe gemischte Gefühle darüber, was in Russland passiert. Wir haben schon noch internationale Medien in Russland, die Qualitätsjournalismus betreiben und fähige JournalistInnen als MitarbeiterInnen haben. Wir haben auch einige Start-ups in der Medienbranche, die erfolgreich sind, aber gleichzeitig bemerken wir auch einen drastischen Rückgang von journalistischer Unabhängigkeit. Unabhängige Medien prägen nicht länger die öffentliche Meinung. Am besorgniserregendsten ist die zunehmende Anzahl von Drohungen und Versuchen, JournalistInnen zum Schweigen zu bringen.

Das ist allerdings nicht das Ende der Geschichte, und JournalistInnen werden einen Weg finden, dem entgegenzuwirken. Wir sind schließlich keine schüchternen Menschen und lassen uns nicht leicht unter Druck setzen. Ich spüre keine Angst unter jenen JournalistInnen, die sich dazu entschlossen haben, ihren Beruf weiter auszuüben.

Aus dem Englischen übersetzt von Katja Deinhofer.
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